Erster Jahresbericht der freiwilligen Armenpflege
Den Zeitraum vom 1. Juli 1870 bis 30. Juni 1871 umfassend und dem wohlthätigen Publikum erstattet von der leitenden Commission. Indem wir einem E. Publikum hiermit über die Thätigkeit der freiwilligen Armenpflege in dem ersten Jahre ihrer Neugestaltung Bericht erstatten, sehen wir uns veranlaßt, einige Notizen über die Entstehung und den Zweck des Vereins vorauszuschicken. Nachdem schon seit dem Jahre 1866 wiederholt die Frage der Neugestaltung des hiesigen Armenwesens angeregt und im Schooße von Behörden und Vereinen war behandelt worden, kam, wie bekannt, eine Fusion der beiden schon seit 1783 und seit 1804 bestehenden und im Segen wirkenden Anstalten: der Krankencommission und der allgemeinen Armenanstalt zu Stande. Für den daraus hervorgehenden neuen Verein, die freiwillige Armenpflege, wurden durch einen von dem E. Stadtrath und der allgemeinen Armenanstalt zugleich bestellten Ausschuß Statuten entworfen, deren Grundlage die umfassendste Freiwilligkeit und Selbständigkeit war und die an der allgemeinen Versammlung aller Mitglieder des Vereins den 24. Februar 1870 die Genehmigung erhielten. Die von derselben Versammlung gewählte leitende Commission nahm nun sofort das ihr aufgetragene Werk der weiteren Organisation des Vereins an die Hand. Die Stadt wurde in kleinere Armengebiete, deren je einem ein Armenpfleger vorzustehen hat, eingeteilt und so die Zahl derselben von 45 auf 135 erhöht; es wurde, indem man alle Straßen der Stadt durchgieng, ein Verzeichnis derjenigen Männer angelegt, die man zur Besorgung des Armenwesens als tüchtig und willig erachtete, und aus demselben für jedes Armengebiet ein Armenpfleger designiert und um die Annahme der Wahl begrüßt. Diese Armengebiete mit ihren Herren Armenpflegern wurden in acht Bezirke eingeordnet, wobei die Eintheilung der Stadt in Kirchgemeinden den Statuten gemäß beibehalten wurde, und diese Bezirksvereine erwählten dann selber je ihren Vorsteher, Statthalter und Schreiber, durch welche Vorstände sie mit der leitenden Commission und dem Secretariat in Verbindung treten. Nachdem die Stelle des letzteren besetzt, eine Instruktion für die Herren Armenpfleger und für den Secretär entworfen und der Präsident der leitenden Commission in der Person des Herrn Rudolf Bischoff-Merian und deren Statthalter in der Person des Herrn Preiswerk-Sulger gewählt worden war, erklärte sich die Gesellschaft den 7. Juni 1870 für völlig konstituiert. Der Verein suchte seinen in § 2 der Statuten ausgesprochenen Zweck, hier wohnhafte, wirklich Arme und Nothleidende ohne Rücksicht auf Herkunft und Konfession, wohl aber mit Rücksicht auf deren sittliches Verhalten, wo möglich nur momentan und nicht sowohl mit Geld als mit anderem zu unterstützen und ihnen auch sonst mit Rath und Tath an die Hand zu gehen, um dadurch einerseits dem Gassenbettel zu steuern und andererseits zu bewirken, dass kein wirklich Nothleidender verlassen sei, möglichst zu erreichen. Wenn wir mit allen Armenpflegern das Loos theilen, daß um der Schwierigkeiten der complicierten Aufgabe willen dieser Zweck nicht vollkommen erreicht werden konnte und wohl auch nie ganz erreicht werden wird, so sind wir uns doch des ernstesten Strebens nach dem vorgestreckten Ziele bewusst.
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Die leitende Commission behandelte und erledigte im Berichtsjahre in 18 Sitzungen u. a. hauptsächlich folgende Gegenstände: Wahl der Herren Armenärzte und Entwurf einer Instruction für dieselben; Wahl eines Präsidenten der Silberbergcommission; Einführung eines neuen Industriezweiges in die Silberberganstalt; Feststellung einer einheitlichen Scala für Hauszinssteuer an Arme und genauere Bestimmungen über Bewilligung von Landaufenthalten, Badekuren und dgl., wie Vereinbarung mit löbl. Fiscis (den Armengütern der Pfarrgemeinden) und Frauenvereinen über gemeinsame Bestreitung der Kosten für dieselben; Revision der Abhörungsbogen; Übereinkunft mit Tit. Niederlassungs-Collegium über das zukünftige gegenseitige Verhalten; Übereinkunft mit Tit. Erziehungs-Collegium über Ausstellung von Bedürftigkeitszeugnissen für Schulgeld-Erlaß; Unterhandlungen mit Tit. Pflegamt des Bürgerspitals über Spitalempfehlungen und die zu leistende Garantie etc. Die Bezirkspflegen hielten monatliche eine, manche derselben mehrere Sitzungen zur Behandlung der vorliegenden Unterstützungsbegehren und der anderen ihnen obliegenden Geschäfte. Jede führt über die gepflogenen Verhandlungen ein genaues Protocoll sowohl zu eigenem Gebrauch als auch zur Mittheilung an das Secretariat. Alle Herren Armenpfleger erfüllten getreulich die von ihnen übernommene schwere Pflicht, wofür wir ihnen gerne hier öffentlich unsern Dank aussprechen.
Im Laufe des Berichtjahres fanden im Personalbestand der freiwilligen Armenpflege verschiedene Veränderungen statt. Wir haben zuerst die schmerzliche Pflicht, des Hinschieds von vier treuen Herren Armenpflegern zu gedenken, unter denen Herr Stadtrath Wimmer auch in weiteren Kreisen unseres städtischen Gemeinwesens eine segensreiche Thätigkeit entfaltete und als Mitglied der leitenden Commission und Mitbegründer der freiwilligen Armenpflege viel zu deren Gestaltung beitrug. Ferner mußte die Stelle eines Bezirksvorstehers, in Folge der Wahl des Herrn Pfarrer Stockmeyer zum Antistes der hiesigen Kirche, neu besetzt werden. Ausserdem legten vier Herren Armenpfleger wegen Wegzuges aus ihrem Gebiete ihr Amt nieder oder übernahmen theilweise ein anderes Armengebiet; sechs resignierten. Alle erledigten Stellen wurden neu besetzt. Drei Armengebiete wurden wegen Überfüllung in je zwei zerteilt, dagegen drei weniger arbeitsreiche Gebiete je einem andern zugetheilt. Die Herren Cassiere lösten ihre mit viel Arbeit verbundene Aufgabe mit der an ihnen gewohnten Gewissenhaftigkeit und Treue. Der Stand der Rechnung darf für dieses Jahr ein günstiger genannt werden. –
Über die Zahl der unterstützten Armen und über die denselben verabreichten gewöhnlichen Unterstützungen geben die beiliegenden Tabellen Auskunft. Es geht u. a. aus denselben auch hervor, daß, während die Zahl der von uns unterstützten hiesigen Bürger etwas mehr als ein Drittheil, die Zahl der Niedergelassenen nahezu zwei Drittheil der Gesammtzahl der Unterstützten beträgt, die für die letztern mit Mühe und Noth von deren Heimatgemeinden erlangten Unterstützungen etwa den sechsten Theil dessen betragen, was die hiesige bürgerliche Armenpflege, das löbl. Almosenamt, für die von uns unterstützten hiesigen Bürger leistet.
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Diesen Tabellen ist hinzuzufügen, was die Wirksamkeit der freiwilligen Armenpflege auf dem Gebiete der Krankenpflege betrifft:
Das Institut besonders angestellter Armenärzte hat sich auch diesmal wohl bewährt. Die Zahl der Armenärzte wurde von drei auf vier erhöht. Es erfüllten dieselben alle gewissenhaft ihre schwere Pflicht. Von den Herren Armenpflegern wurden ihnen 490 Arme zu unentgeltlicher Besorgung zugewiesen. Es wurden diesen Kranken 1881 ärztliche Besuche gemacht, 506 Consultationen ertheilt und 1214 Rezepte verschrieben, welche letztere der Armenpflege eine Ausgabe von 942 Fr. 76 Cts. verursachten. Auf die armenärztlichen Empfehlungen hin wurden von der freiwilligen Armenpflege den verschiedenen Heilanstalten in Pflege gegeben: Dem Bürgerspital 30 (ausserdem zur Aufnahme auf dem Concordatswege noch viele empfohlen), der Diakonissenanstalt 5, dem Kinderspital 23, der Augenheilanstalt 5 Personen. Ausserdem erhielten 40 Reconvaleszenten die übliche Unterstützung für einen Landaufenthalt und 15 für eine Badekur (die einzelnen in hiesigen Badanstalten verordneten Bäder nicht gerechnet); an 14 Personen wurden Bandagen oder Bruchbänder verabreicht; die sogenannte Altersspeise (wöchentlich abwechselnd 3 Pfund Brot oder 1½ Pfund Fleisch) an alte und Gebrechliche über 70 Jahre wurde 94 Personen zutheil. Hinsichtlich der durch Arbeit und Darreichung von Kleidern in der Silberberganstalt Unterstützten verweisen wir auf den Bericht der Silberbergcommission.
Über die weitere Thätigkeit der freiwilligen Armenpflege haben wir folgendes mitzuteilen: Sie hält, solange die Unterstützungspflicht der Heimathgemeinden zu Recht besteht, an dem Grundsatze fest, in allen wichtigeren Fällen dieselben in Mitleidenschaft zu ziehen. Demzufolge wurden, ausser dem, was, besonders zu Anfang des Berichtsjahrs, noch nach bisher gewohnter Weise von den Herren Pfarrern und einzelnen Herren Armenpflegern in dieser Richtung gethan wurde, durch das Secretariat 202 Unterstützungsgesuche (die damit verbundenen Correspondenzen nicht gerechnet) an die Heimathgemeinden hier niedergelassener Armengenössiger gerichtet. Davon wurden 64 gar nicht oder nur nach wiederholten, dringenden Mahnungen beantwortet; 42 wurden abgewiesen, 68 Gesuchen wurde entsprochen, die übrigen Antworten lauteten im Sinne von Vertröstungen und Bitten um Geduld. Es wäre über dieses Kapitel noch manches zu sagen; doch mögen einstweilen die Thatsachen reden. Der bekannte (hauptsächlich passive) Widerstand der Heimathgemeinden, wo es sich um ihre Unterstützungspflicht handelt, scheint aus mehr als einem Grunde eher im Zu- als im Abnehmen begriffen zu sein. Doch gibt es ehrenwerthe Ausnahmen. Es hält schwer, eine Heimathgemeinde zur Bewilligung einer Unterstützung zu bewegen, aber in vielen Fällen fast noch schwerer, den einmal zugesicherten Unterstützungsbetrag zu erhalten. Am besten wirkte in einzelnen Fällen nach wiederholten vergeblichen Mahnungen einfach die Nachnahme des zu entrichtenden Betrags. In mehreren Fällen gewährte auch das Niederlassungs-Collegium bereitwilligst seine Mitwirkung.
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Was die weitere Organisation des Vereins und seine Beziehungen zu Behörden, Vereinen und Privaten betrifft, so wurde mit den Fiscis und den Frauenvereinen die Übereinkunft getroffen, daß die ersteren die Hälfte der Hauszinssteuern auf ihre Rechnung übernehmen und zugleich mit den Frauenvereinen einen bestimmten Antheil an die Kosten für Verpflegung im Spital und andern Heilanstalten sowie für Landaufenthalte und Badekuren tragen. Die Frauenvereine wirken daneben selbständig hauptsächlich durch Besuch armer Kranker und Verabreichung von Krankenkost und Holz an dieselben. Sie ergänzen somit die Wirksamkeit der freiwilligen Armenpflege und es ist unsere Pflicht, den Irrtum zu widerlegen, als seien sie in der freiwilligen Armepflege aufgegangen. Sie bedürfen vielmehr nach wie vor der kräftigsten Unterstützung des E. Publikums.
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Mit dem Almosenamt wurden genaue Verzeichnisse der beiderseitig Unterstützten und der Unterstützungsbeiträge ausgetauscht zum Behufe der notwendigen genauern Controllierung. Mit dem Niederlassungs-Collegium wurde vereinbart, daß dasselbe auf die früher üblich gewesenen Citationen der Unterstützten und Ausweisung derselben um empfangener Unterstützung willen verzichtet, daß dagegen die freiwillige Armenpflege demselben Einsicht in ihre Bücher gestattet und dessen Winke und Weisungen zu thunlichster Berücksichtigung entgegennimmt, besonders auch hinsichtlich derjenigen Personen, welche sich in Pflege befinden, d. h. denen die Niederlassung nur gegen die Verpflichtung gestattet wurde, daß sie der öffentlichen Wohlthätigkeit nicht zur Last fallen wollen.
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Schwieriger waren um der Natur der Sache willen die Versuche, in Verbindung mit dem Pflegamt des Bürgerspitals eine bestimmte Norm aufzustellen, nach welcher Schweizerbürger concordierender Cantone concordatsmäßig, d. h. auf Kosten der betreffenden Heimathgemeinden verpflegt werden sollen und nach welcher die freiwillige Armenpflege die Garantie zu übernehmen hat. Es blieb dieser Gegenstand mehr Sache eines jeweiligen freundschaftlichen Übereinkommens mit der Spitaldirektion. Für Kranke katholischer Confession wurde jeweilen auch der Fiscus der katholischen Gemeinde um eine Beisteuer begrüßt. Das Tit. Erziehungs-Collegium bedient sich nach einer getroffenen Übereinkunft der freiwilligen Armenpflege zur Ermittlung, welchen Eltern, die auf Erlaß des Schulgelds Anspruch machen, diese Wohlthat zu gestatten sei. Vom Beginn dieser Übereinkunft, anfangs März bis 30. Juni 1870, wurden 37 bezügliche Fälle erledigt.
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Die deutsche Hilfsgesellschaft gewährte uns in mehreren einzelnen Fällen, in denen wir uns an sie wandten, bereitwilligst ihre Mitwirkung, ebenso das Directorium der schweizerischen Centralbahn in den Fällen, wo wir dieselbe um Ermäßigung der Fahrtaxe für nach Hause zu befördernde Arme begrüßten. – Der Armenerkundigungsverein wirkt selbständig mit Erfolg auf seinem Gebiete fort, in einzelnen Fällen bediente er sich der freiwilligen Armenpflege zum Einzug von Erkundigungen. Auch von Privaten wurden das Secretariat und einzelne Armenpfleger vielfach theils um Auskunft, theils um Mitwirkung in Armensachen begrüßt. – Mit aussercantonalen Armenanstalten traten wir in einzelnen gegebenen Fällen in Verbindung; eine angestrebte Übereinkunft mit den verschiedenen Badarmenanstalten kam erst theilweise zustande.
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Wenn solcherweise die freiwillige Armenpflege nach verschiedenen Seiten hin thätig zu sein suchte, so verhehlen wir uns deswegen nicht, daß noch manches zu thun übrig bleibt, um auf dem betretenen Wege dem uns vorgezeichneten Ziele eines übereinstimmenden Wirkens immer näher zu kommen, wie der den Herren Armenpflegern erstattete Bericht in einigen Punkten etwas näher zu beleuchten versucht hat. Besonders ist noch größere Vereinfachung und kräftigere Belebung unsrer Thätigkeit zu wünschen. Immerhin dürfen wir sagen, daß die angestrebte Organisation bereits Gestalt gewonnen hat, was bei der immer größern Ausdehnung der Stadt, den immer mehr sich erweiternden Niederlassungsrechten und dem theoretisch schon lange angestrebten und praktisch jetzt schon theilweise sich geltend machenden Wohnortsprinzip bezüglich der Armenunterstützung gewiß von Wichtigkeit ist. Ob freilich rücksichtlich der zuletzt erwähnten Thatsachen und der gerade gegenwärtig ventilierten, in unsere Verhältnisse tief eingreifenden bezüglichen Fragen in der Folge eine auch wohl organisierte freiwillige Armenpflege mit ihrer Kraft und ihren Mitteln ausreichen wird, ob nicht vielmehr mit der Zeit auch auf dem Wege der Gesetzgebung, sei es nun durch Errichtung obligatorischer Krankenkassen u. dgl., sei es durch Einführung einer allgemeinen billigen Armensteuer, sei es auf andere Weise, etwas wird geschehen müssen, das wird eine vielleicht nicht ferne Zukunft lehren. So viel ist gewiß, daß die schwieriger werdenden Verhältnisse umso größere gemeinsame Anstrengungen erfordern und daß, wie die Zukunft sich auch gestalten möge, der freiwilligen Armenpflege stets ein weites und arbeitsreiches Gebiet zur Bebauung und Pflege offen bleiben wird.
Für alle dem Verein zutheil gewordenen Unterstützungen durch Beiträge, Geschenke und Legate sowie durch persönliche Leistungen sprechen wir hiemit unsern verbindlichsten Dank aus. Wir empfehlen unsern Verein auch für ferner dem Wohlwollen und der Unterstützung des E. Publikums, vor allen Dingen aber dem Segen Gottes, der allein zu allem, was wir pflanzen und begießen, das Gedeihen gibt und der uns auch im verflossenen Jahre so reichlich gesegnet.
Basel, im Oktober 1871
Die leitende Commission der freiwilligen Armenpflege.
In deren Namen
der Secretär:
J. Breitenstein, Pfr.