Johann Jakob Bernoulli

Bildnis des Archäologen Johann Jakob Bernoulli, 1852, von Ernst Stückelberg.#Kunstmuseum Basel

Bernoulli-Reber, Johann Jakob, (1831–1913), Studium der Germanistik in Basel und Berlin, dort Hinwendung zur Altertumswissenschaft und Kunstgeschichte. 1854 Promotion; Reise nach Italien und Griechenland. Zurück in Basel unterrichtete er Geschichte an höheren Schulen und hielt daneben an der Universität als erster, ehrenamtlicher Dozent für klassische Archäologie bis 1898 Vorlesungen und Übungen, welche hauptsächlich die Plastik zum Gegenstand hatten. Bernoulli verfasste umfangreiche Publikationen zur griechischen und römischen Ikonografie. Die Freundschaft zwischen Bernoulli und Breitenstein nahm seinen Anfang während der gemeinsam besuchten Pädagogiumsjahre. Während seines Studiums in Berlin schreibt er Jonas Breitenstein ausführlich über das Alltagsleben in Berlin und sein Studium und dabei auch über seine Hinwendung zur Archäologie.

Berlin den 20ten Nov. 1850.

Lieber Freund,

Du wirst finden, es sei nun bald Zeit, daß ich auch einmal an Dich denke; und ich kann Dich versichern, auch mich verlangt es sehr, etwas von Deinem Treiben zu erfahren. Ich bin einiger Maßen in Verlegenheit, wo ich anfangen soll; denn wenn man so zum ersten mal weit hinweg in die Fremde kommt, so sieht u. erlebt man so viel, daß man gar nicht Alles in sich aufnehmen kann, daß man vielmehr nach allen Richtungen gezogen wird und am Ende doch nur die Oberfläche der Gegenstände berührt hat. Ich bin in der That zu noch nichts Gründlichem gekommen und Du wirst es genugsam aus diesem Briefe erkennen, in wie wenig ich mich noch aus dem Chaos der Erlebnisse heraus gearbeitet habe. Und denk Dir jetzt noch obendrein die Politika, wie kann man auf diese Weise zur classischen Ruhe gelangen. Allein wenn es auch nicht ganz sein kann, so will ich doch wenigstens darnach streben, und glaube auch bereits den Ansatz dazu gemacht zu haben. In der ersten Zeit kommt man ja eigentlich nie zum studieren; ich tröste mich daher damit, daß ich bloß eine ganz natürliche Phase durchgemacht habe, und von diesem Gesichtspunkt aus ist die Zeit auch nicht verloren. – Du weißt also, daß ich die Reise mit Pipin gemacht habe, rheinabwärts über Köln; ach ich kann den Namen Köln kaum aussprechen ohne an den Dom zu denken: ich kann mir die Möglichkeit nicht vorstellen, etwas größeres, etwas Wundervolleres von Menschen Hand u. Menschen Geist zu sehen. Ich muß jetzt schon die künftigen Geschlechter beneiden, wenn ich erwäge, daß sie den Bau vielleicht vollendet schauen können; doch was braucht’s diesen Bombast, ich will Dir’s ganz mit einfachen Worten sagen, was ich empfand, oder vielmehr, ich will Dir’s lieber nicht sagen. Ich habe mich mit meinem Bischen architectonischer Ästhetik durch alle Kirchen u. Dömer hindurchgeschlagen, wie man eben auf solchen Reisen thut, aber als ich nach Köln kam, da verstummte sie, da stand ich an einem Pfeiler und ließ mein Auge in den Glasgemälden schwelgen und ließ meinen Geist in die Höhe fliegen, wohin er wollte. Es hat mir noch Nichts so sehr den Eindruck des Menschlichen in seinem tiefsten Sinne gemacht wie der Kölner Dom: herrlich, unbeschreiblich, unermeßlich u. mitten drinn die verklekste Gypswand, welche Chor u. Mittelschiff trennt, ist das nicht menschlich?

Ich will Dir kein näheres Détail meiner Reise geben, sie ist zu meiner völligen Zufriedenheit abgelaufen, Einzelnes natürlich abgerechnet. Wir sind ein wenig zu früh nach Berlin gekommen, das ist wahr; denn mit dem Amüsieren hat es eben doch sein Ziel; man kann nicht eine ganze Woche herumbummeln und die Merkwürdigkeiten und Theater besehen, ohne irgend etwas Ersprießliches zu thun; man hat keine rechte Freude dabei man hat immer das Gefühl, daß man eigentlich nichts anders thut, als seine Zeit tödtet, und dieß traurige Geschäft kommt Einem erst noch theuer zu stehen. Allein was konnten wir andres thun in der ersten Woche; wir hatten unsere Sachen noch nicht erhalten, noch kein einziges Buch, noch keine Collegien. Und die Bücher sind in jetziger Zeit leider nur zu nöthig zum Studieren; ich habe dieß schmerzlich zu fühlen. Denn in Basel, so schlecht die Bibliothek bes. in germanistischer Beziehung war, so hatte ich doch fast immer Gelegenheit, meine Wünsche zu befriedigen; hier aber trotz der vortrefflichen Bibliotheken bekommt man nichts; wenn man all das Ceremoniell mit den Karten u. Scheinen etc. treulich ausgerichtet hat u. dann ein Buch will, so heißt’s: schon verliehen; alles einigermassen Cursive ist fort, und deutsche Dichter bekömmt man nicht, weil es als Unterhaltungslectüre angesehen wird. Du kannst Dir nun denken, in welchem Zustande ich bin. Ich habe doch nicht meine ganze Bibliothek mitnehmen können und kann mich auf der andern Seite auch nicht den ganzen Tag mit den Lexicis herumschlagen. Ich hätte es nicht geglaubt, daß man so übel dran ist, wenn man seinen Schiller od. Göthe nicht zur Hand hat. – Ich hoffe indeß, wenn ich längere Zeit hier gewesen bin, so werde ich schon irgendwo eine Hilfsquelle entdecken; denn um mich in Leihbibliotheken zu abonnieren, dazu habe ich denn doch zu wenig Muße. Die Karten, die mir Wackernagel an einzelne Professoren mitgegeben, haben mir überall einen sehr freundlichen Empfang bereitet, bei dem es indeß einstweilen sein Bewenden hatte.

Da ich bisher noch nicht so tief ins Studieren versenkt war, so hatte ich auch keinen Anlaß, ihren Rath in Anspruch zu nehmen; ich werde aber nächster Tage wieder einmal zu Lachmann gehen. Das Collegium, das ich bei ihm höre über altdeutsche Litteratur, ist wirklich ausgezeichnet u. dabei sehr anregend, schade daß er anderthalb Wochen krank war. Er geht ganz nach Wack. Lehrbuch, verfährt aber nicht sowohl historisch als kritisch; auch in seinem andren Collegium, Erklär. des Agamemnon, ist dieß der Fall, so sehr, daß es mich eigentl. halb verdrießt: er beleuchtet alle möglichen Stellen, die sich auf den Agamemnon beziehen, mit seiner Kritik; ich wünschte sehr, er würde einmal ans Stück selber gehen. Dasselbe könnte Böckh mit seiner Litterat. gesch. thun; der giebt nun wirklich eine zu monströse Einleitung, die zwar sehr vortrefflich ist aber ihn gar nicht zum eigentl. Thema kommen läßt. Und dabei hat er den langweiligsten Vortrag von der Welt, Brömmel redet gegen ihn noch schnell. Was die Geschichte der Lehrpoesie v. W. Grimm betrifft, so könnte ich nur wünschen, daß das Collegium mehrstündig wäre als bloß einmal in der Woche; es ist ein ganz schlichter, prunkloser Mann auch in seinem Vortrage, aber man merkt es ihm an, daß bei ihm die Gelehrsamkeit zur Natur geworden ist. Interessant für mich war es, daß er entgegen Wack. die Ansicht aufstellt, daß die älteste Poesie nicht epischen, sondern kosmogonischen und mythologischen Inhalts sei; und ich konnte nicht umhin ihm Recht zu geben. Auch in der Poetik die Böckh in seiner Einleitung giebt, ist Manches vorgekommen, das nicht ganz mit Wack. Ansichten harmoniert; aber ich glaube überhaupt, daß sich Wack. vor dem schönen Organismus, den die 3 Seelenkräfte ihm für seine Poetik boten, zu manchem mehr od. weniger Gezwungenem hat verleiten lassen. Unglücklicher Weise bin ich etwas zu tief in die Archäologie hineingerathen, sodaß ich keine rechte Zeit finde, um mich mit meinem Fachstudium abzugeben. Wackern. hat mir den Prof. Gerhard als einer der ersten Archaeologen sehr empfohlen, was auch ganz wahr sein mag, aber sein Collegium ist für mich eine wahre Qual. Die ganze Stunde giebt er Einem Büchertitel an und zählt seine Kunstwerke auf, ohne im geringsten auf das Aesthetische Rücksicht zu nehmen, als ob er uns lehren müsste, wie viel noch von Alterthümern übrig sei und wo sie sich der Zeit befinden. Dazu kommen die archäologischen Übungen, welche allerdings etwas interessanter sind, weil man wenigstens selbst thätig dabei ist; aber eben das ist mir nicht ganz recht, daß ich gezwungen bin, mich mit solchen Dingen abzugeben. Allerdings bin ich auch hieher gekommen, um die Kunst zu studieren, denn das kann man nirgends wie hier, aber Gerhard kommt immer wieder auf seine Vasen zurück, wo am Ende wenig Kunstgeschmack zu holen ist. Es reut mich, daß ich dieses Coll. angenommen habe, ich hätte Anderes dafür haben können, was ich nur sehr ungern fahren ließ. Gerhard ist ein herzlich guter Mann u. giebt sich Mühe; allein er ist entsetzlich langweilig, u. hat auch anfangs außer mir bloß noch Einen Studenten gehabt, jetzt sind wir 4. Ich denke, er kann sich mit den Basler Professoren trösten. Da Du hoffentlich im Frühjahr od. Spätjahr auch hieher kömmst, so werden Dich die ökonomischen Verhältnisse wahrscheinlich interessieren. [...] So viel ich gehört habe, ist dato kein sehr glänzendes Semester für Theologen, aber weil Neander noch nicht ersetzt ist; dagegen sind die philosophischen Wissenschaften so bestellt wie man es nur wünschen kann, und da Du ja wahrscheinl. auch philosophisches anhören würdest, so käme es auf einen Theologen mehr oder weniger nicht so sehr an; die Wahl thut einem so schon weh genug. [...]

Samstag Abends sollen eigentlich die Schweizer jedesmal sämmtlich sich bei Paatz einfinden; allein Du begreifst, wenn solche darunter sind, die sich schon gegenseitig duelliert haben, so kann kein sehr trauliches u. freundschaftliches Verhältniß stattfinden; von Gemüthlichkeit ist dabei gar keine Rede, wie sie überhaupt hier eine seltene Sache ist. Am gemüthlichsten ist es, wenn wir dem Pipin aufs Zimmer steigen u. ein wenig Schindluder miteinander treiben. Es wäre daher gar nichts so Überflüssiges, wenn ein Zuwachs an guten Freunden käme, u. ich hoffe, so ziemlich auf Dich rechnen zu dürfen. Gerne gebe ich Dir in einem künftigen Briefe Aufschluß über Alles was Du etwa näher zu wissen wünschest oder was ich vergessen hätte. Grüße mir einstweilen alle meine Freunde, bes. Meißner u. Schenkel, dem ich für seinen freundschaftlichen Brief sehr danken lasse, die Antwort werde aber später erfolgen. Auch Wackernagel grüße mir, wenn Du einmal zu ihm kommst, aufs freundlichste. Sei auch so gut und bringe inliegendes Zettelchen meiner Mutter, die vielleicht gerne ein Wort mit Dir spricht. Meine Adresse ist: Mittelstraße N. 30 bei Hrn. Klepzig; indessen brauchst Du Deinen Brief nur bei uns abzugeben, da er dann vielleicht per Einschluß geschickt werden kann. Ich hoffe, recht bald etwas von Dir zu vernehmen. Leb unterdessen wohl!

Dein treuer Freund J. J. Bernoulli.