Die Pfingstreise durch Thüringen

Lieber Großvater! Göttingen, den 3ten Juli 1851.

[…] Um Pfingsten hatten wir einige Tage frei und benützten dieselben zu einem Ausflug nach Thüringen, der mich nicht wenig erheiterte und belehrte. Alle Weisheit kann man nun doch einmal nicht aus Büchern und in Hörsälen schöpfen, sie wird oft erst wahrhaft belebt und wirksam gemacht durch eigene Anschauung und Lebenserfahrung. Es würde mich zu weit führen, wollte ich die Tour ganz beschreiben, nur einige Skizzen kann ich geben: Über die schöne Ruine „Hanstein“ und über die Teufelskanzel (Berge mit denen unseres Kantons vergleichbar) gelangten wir ins Werrathal, durch das wir bis ins preußische gewerbreiche Städtchen Eschwege wanderten, wo wir übernachteten.

Ruine Hanstein bei Göttingen. Kupferstich um 1820.#Verlag Wiederhold Göttingen.

Über Berg und Thal durch schöne Waldgegenden und über fruchtbare Felder so wie durch einige Dörfer, in deren einem wir im Wirthshause beim Mittagsmahl Gelegenheit hatten, die schmutzige unordentliche Wirthschaft und eigenthümliche Sprache und Sitte der hiesigen Landleute zu bewundern, gelangten wir nach der kleinen Stadt Kreuzburg und von hier nach dem berühmten schön gelegenen lieblichen Eisenach, in dem einst Luther als Chorsänger seine helle Stimme auf den Straßen erschallen ließ. Die Stadt selbst ist z. Th. hübsch gebaut, reinlich und verräth den Wohlstand der Einwohner, die u. a. lebhaften Speditionshandel treiben. Das wichtigste für uns war natürlich die nahe gelegene Wartburg, die, wohl 900 Jahre alt, schon so viele Zeiten und Ereignisse an sich hat vorübergehen sehen. Stolz erhebt sie sich auf einem schroffen Felsen und gewährt eine herrliche Aussicht ringsum auf das blühende Land. Der Saal, wo anno 1207 oder 9 der berühmte Sängerstreit soll gehalten worden sein, wird noch gezeigt und ist gegenwärtig der Reparatur unterworfen. Viele schöne Rüstungen der Landgrafen von Thüringen und alte Geräthe werden vorgewiesen, wie auch die Kapelle, wo Luther der landgräflichen Familie predigte und vor Allem das Lutherzimmer, einsam und düster, wohin Luther, nachdem 1522 zu Worms über ihn die Reichsacht war gesprochen worden, auf Geheiß des ihn schützenden Landgrafen gebracht wurde und incognito sich aufhielt. Der Tintenfleck an der Wand ist von Reliquiensammlern ausgekratzt und zum Loche geworden.

Lutherzelle in der Wartburg. Stahlstich um 1850.#https://www.zvab.com/servlet/BookDetailsPL?bi=16117484536&searchurl=hl%3Don%26sortby%3D20%26tn%3Deisenach%2Bstahlstich&cm_sp=snippet-_-srp1-_-title17

Schön sind die hier sich befindlichen Gemälde von Albrecht Dürrer, der ja zu Luthers Zeit lebte, Luthers Eltern darstellend. Hier hat Luther in den schwersten Tagen seines Lebens, nachdem er vor Kaiser und Reich gestanden und sein bekanntes inhaltschweres Wort gesprochen hatte, und darauf so viel als vogelfrei erklärt worden war, einen großen Theil der h. Schrift in die Sprache seines Volkes so meisterhaft übersetzt, von hier aus seine kühnen Schriften gegen die Verkehrtheit der römischen Kirche geschleudert. Die Wartburg wimmelte von Besuchern. Der Menschenschlag, den wir hier und in ganz Thüringen trafen, ist sehr schön und als solcher auch bekannt. Von hier aus ging’s per Dampf nach Gotha, wo ich zum ersten Male Gelegenheit [hatte], die Pracht, die ein kleiner Fürst wie der Herzog von Coburg Gotha entfaltet, zu sehen. Wir irrten lange im großen Park und der schönen und großen Orangerie umher. Prachtvoll ist das Theater gebaut; ebenso noch mehr andere öffentliche Gebäude. Bald führte uns der Zug von hier der alten festen Stadt Erfurt mit ihren großartigen Festungswerken entgegen. Zwischen den hohen Wällen und Gräben und selbst unter den Wällen weit hindurch führt jetzt die Lokomotive mit ihrem langen Wagenzug. Die Große Glocke im Dome habe ich nicht gesehen. Von hier zogen wir nach Weimar, dem Sitze der deutschen Litteratur, und der Residenz des Großherzogs von Sachsen-Weimar. Die Stadt selbst ist unregelmäßig gebaut und nicht sehr schön. Prachtvoll ist jedoch das großherzogliche Schloß besonders im Innern. Die Schloßkapelle mit den hohen Säulen, dem mit köstlichen Teppichen belegten Boden, dem kunstvollen Katheder etc. etc. bezaubert das Auge.

Schlosskapelle Weimar, erbaut 1845-47 von Heinrich Hess.#Christian Hecht: Dichtergedächtnis und fürstliche Repräsentation. Der Westflügel des Weimarer Residenzschlosses - Architektur und Ausstattung. Ostfildern-Ruit, 2000.

Und in den Zimmern, die wir gesehen haben, welcher Glanz! Auf kunstvollen Tischen große prächtige Vasen von vielleicht mehrern 1000 frn. Werth, Tische deren Gestell kunstvoll geschnitzt und vergoldet und deren Platte aus einer Fläche von feinem blauen Glaskristall verfertigt ist. Zu Ehren der großen Dichter: Herder, Wieland, Göthe und Schiller sind die berühmten Dichterzimmer eingerichtet, deren Wände mit den schönsten Freskogemälden von den berühmtesten neuern Meistern, Darstellungen aus den Werken der Dichter selbst, bekleidet sind, Alles in gefälligster Symmetrie.

Schillerzimmer im Stadtschloss Weimar.#https://www.klassik-stiftung.de/stadtschloss-weimar/

In Nischen stehen die gelungenen Büsten der Sänger, aus cararischem Marmor. Die Thüren sind mit feinen kunstvollen Reliefs aus Erz ganz belegt und kosten viele 1000 Thaler. Das nennt man Cultus des Genius, während der Genius selbst, der hie und da erwacht, unbeachtet wird, und in einem Dachstüblein versauren und verderben muß. Wir besuchten auch das Schloß Bellevue auf einem Berge nahe bei der Stadt. Es war Feiertag (die Lutheraner feiern nämlich auch Pfingstmontag und Dienstag.) und halb Weimar, der Großherzog selbst mit seiner Familie befand sich dort oben; ich habe auch die Ehre gehabt, seine dicke Hoheit zu sehen. Seine Landeskinder bekümmerten sich nicht viel um ihn sondern vergnügten sich friedlich in den schönen Anlagen um das Schloß, die alle öffentlich sind. Wir hatten im Sinne, von hier zu Fuß Thüringen zu bereisen, da aber Regenwetter eintrat, so kehrten wir über Cassel zurück. Die Eisenbahn durchs Hessische geht durch 3 Tunnels unter Bergen hindurch, der längere ist wohl eine halbe Stunde lang, die Gewölbe sind aus Backsteinen (so weit ich’s nämlich sehen konnte.) gebaut. Das Hessenland gefällt mir ausnehmend gut, es ist lieblich und fruchtbar und die Leute darin sind frisch und rüstig, schade, daß das Land jetzt so sehr unter seinem Drucke seufzen muß. Cassel, das ich bei meiner Reise nach Göttingen nur bei Nacht passiert und daher nicht gesehen hatte, ist die schönste Stadt, die ich noch gesehen. Prächtige große Gebäude zieren die geraden Straßen, der große Paradeplatz ist von Palästen umgeben.

Die grosse Parade vor der Orangerie in Kassel. 5. Juni 1850.#http://www.kasselwiki.de/index.php?title=Paraden_%E2%80%93_Aufm%C3%A4rsche

Im großen Parke vor der Stadt exerzierten die bairischen, östreichischen und hessischen Truppen und paradierten nachher vor dem Kurfürsten. Die Preußen sind abgezogen, doch befinden sich wohl noch über 1000 Mann fremdes Militair in der Stadt. Wir besuchten auch die berühmte Wilhelmshöhe, wo gerade die Wasserwerke spielten, die, wie es einem scheinen möchte, zum Großartigsten gehören, was menschliche Pracht- und Genußliebe ersinnen kann. Hohe künstliche Felsen sind zwischen Gesträuch und Bäumen aufgebaut, über denselben in ganz anderer Lage und Gegend wieder andere und gegen die Spitze oder Höhe des Berges zu ungeheure steinerne Terassen mehrere 100 Fuß lang, längs welchen sich Treppen auf beiden Seiten zur Höhe emporwinden. Ganz oben steht auf hohem Fels, das Ganze beherrschend eine Burg, deren Thurmspitze ein kupferner Herkules bildet, in dessen Keule allein mehrere Personen Platz haben sollen (wir hatten nicht mehr Zeit ganz hinaufzusteigen).

Das Herkules-Bauwerk mit den vorgelagerten Großen Kaskaden während der Wasserspiele (Kupferstich um 1800)#Friedrich Christian Reinermann, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4915081

Das Wasser, das durch hydraulische Kunst vermittelst einer Dampfmaschine dort hinauf geschafft wird, sprudelt nun, wenn das Spiel beginnt aus 100 Brunnen hervor und plätschert mit Geräusch und Getöse über die hohen Terrassen hinab, sammelt sich unter derselben in ein Bassin und bildet weiter unten über die vorhin beschriebenen Felsen über 100 Fuß hohe Wasserfälle und Staubbäche, das Ganze beschließt unten ein Springbrunnen der 120 Fuß hoch springen soll und in seinem Spiel fast aussieht wie eine hohe kristallne Pappel, wenn man den Stamm davon wegdenkt. Und die Menschen kommen herauf und begaffen das Spiel, das ihre Hand sich bereitet, wie Kinder mit ihren Werken thun; solchen Eindruck machen derlei Dinge bei all ihrer Herrlichkeit. – Besser hat mir das schöne Marmorbad gefallen mit seinen prächtigen Marmorwänden und den vielen herrlichen Sculpturen in weißem Marmor, von denen einzelne (und es sind deren 20–30) einen Werth von 20’000 Thaler besitzen. Bei all dieser Herrlichkeit macht Cassel gegenwärtig keinen guten Eindruck wegen der düstern Stimmung, die hier natürlich herrscht, da Niemand recht umzuschauen geschweige herzhaft zu reden wagt. Über das gewerbreiche Münden kehrten wir nach Göttingen zurück; das war eine kleine Reise und wir haben doch viel gesehen und gelernt. […]

Doch ich muß schließen; lieber Großvater, grüßt mir vielmal die werthe Großmutter, die lieben Eltern, den Vetter und Verwandte und seid ebenfalls herzlich gegrüßt von Euerm Euch liebenden dankbaren Großsohn
Jonas