Politische und soziale Betrachtungen

Auszug aus dem Brief an die Eltern vom 15. Juni 1851

In den letzten Briefen habe ich Euch die Reise und unsere Einrichtungen beschrieben, jetzt wird es wohl am Platze sein, auch Einiges über die Stadt und das Land wo ich lebe zu sagen. Hannover ist ein Königreich, das wißt Ihr; es scheint mir aber darin nicht der finstere monarchische Geist zu herrschen, wie in manchen andern Orten Deutschlands, wo man bei jedem Wörtchen, das man spricht, sich umschauen muß, ob die Stube auch gekehrt sei und man fürchten muß, für ein freies Wörtchen ein unfreies Logis zu erhalten. Es bewegt sich Alles ziemlich frei, man hört politisieren, wenn auch in gemäßigterem Tone (versteht sich) als bei uns und die Polizei steht nicht immer Einem hinter dem Fuße wie sonst wohl. Der König soll ein barscher Kriegsmann sein, der Wenig verspricht, aber was er versprochen, hält. Am Donnstag vor Pfingsten wurde im ganzen Lande sein Geburtsfest gefeiert, Musikanten spielten hier schon am frühen Morgen Lieder vom Jakobithurm herab, die ganze Bürgerwehr marschierte nachher in Reih und Glied auf den Paradeplatz, um 12 Uhr läuteten alle Glocken und Kanonenschüsse donnerten drein. Solche Ehrenbezeugungen beweisen die Landeskinder ihrem Oberhaupt.

Die Kirche zu St. Jakobi. Lithographie um 1830 von Friedrich Besemann.#Städtisches Museum Göttingen, Inv. Nr. 1917/69.

Wir sahen ein Wenig zu, als die Bürgerwehr in Parade stand; als wir aber merkten, daß in einer Rede an dieselbe wohl ein Vivat auf den König gebracht werden sollte, worein einzustimmen als Republikanern uns nicht passend schien, liefen wir, um uns nicht zu blamieren, davon, wir hatten ihnen kaum recht den Rücken gekehrt, so erschallte schon aus aller Munde dreimal ein donnerndes Hoch.

 

Auszug aus einem Brief an den Grossvater Jonas Matt vom 3. Juli 1851

Was nun, um zunächst mit diesem anzufangen, die politische und soziale Atmosphäre, in der wir hier leben, betrifft, so muß ich gestehen, daß es Einen ganz leicht und wohl ums Herz wird, wenn man aus dem unterjochten Baden und dem gedrückten Hessenlande kommend wieder in die reinere Luft Hannovers treten kann. Das Land ist von den Nachwehen der 48ger Wirren wenig oder gar nicht heimgesucht und der zähe König soll das Wenige, das er nachgegeben hat, auch halten. Von äußerem monarchischem Drucke verspürt man so viel als nichts, Gendarmen trifft man kaum mehr als bei uns (wir haben hier nur ein paar armselige Thorwächter), privilegierte Spione eigentlich keine. Über vaterländische Angelegenheiten hört man die Bürger offen und frei sich äußern, wenn auch in gemäßigtem Tone, und dem Kurfürsten von Hessen werden hier wie anderseits laut seine Erbärmlichkeiten in die Schuhe geworfen, wie auch über das Benehmen gegen Schleswig Holstein ein bitteres Wort nicht selten vernommen wird. Als der Kurfürst von Hessen unlängst hier durchzog, um den König von Hannover an seinem Geburtstage mit einem Besuche zu beehren und Göttingen vermied aus Furcht vor den Studenten, soll er dagegen in Einbeck mit einigen Steinen empfangen worden sein. Sonst verspürt man hier wenig von eigentlich drohender revolutionairer Gährung, und der Geburtstag des Königs wurde z. B. hier ohne alle und jede Störung mit vieler Festlichkeit und Freude gefeiert, dem König wurde ein lautes Vivat gebracht, wenn es vielleicht auch bei dem Einen oder dem Andern aus etwas gepreßter Brust erschallen mochte, Kanonendonner brüllte drein und alle Glocken der Stadt ertönten. Es besteht nämlich auch hier eine ziemlich gut organisierte Bürgerwehr, die jede Woche ein Exerzitium hat, sonst aber freilich weder sehr zahlreich noch kriegerisch ist. Da Göttingen ein Kreisort ist, so hat es eine große Caserne, dieselbe ist aber leer, die Soldaten sind, wenn ich nicht irre, nach Clausthal versetzt worden, weil hier häufige Reibungen zwischen den Soldaten und Studenten vorfielen und der König nicht leiden wollte, daß seine Offiziere von letztern durchgeprügelt wurden, was eben nicht selten geschah. Eigentliche rohe Stockprügeleien fallen übrigens unter den hiesigen Studenten gar nicht vor, Alles bewegt sich mit einem gewissen Anstand und Selbstgefühl ohne dabei steif und ziererisch zu sein, und wo unter den Leuten wärmeren Geblütes Streitigkeiten entstehen, werden dieselben in aller Gesetzlichkeit und Ordnung auf dem Fechtboden mit den Schlägern ausgefochten. Ernsthafte Duelle jedoch sind streng verboten und kommen seltener vor, und von Losgehen gegeneinander überhaupt ist nur in den Verbindungen die Rede, die sich fast täglich im Fechten üben. Was nun das bürgerliche Leben in Göttingen betrifft, so würde dieß ohne die Universität ein wenn auch nicht krähwinklerisches, doch ziemlich spießbürgerliches sein und ist es auch trotzdem. Die Leute sitzen im Ganzen genommen zufrieden in manchen guten Sitten wie auch in manchem Mist und schauen nicht gar weit über den Horizont ihres heimathlichen Lebens hinaus. Einzelne haben freilich neue Ideen eingesogen und machen dieselben auf norddeutsche witzige ja sogar halbfranzösische krächzende Weise bekannt. Viel beschäftiget auch sie die Frage über die Eisenbahn, die, wenn ich nicht irre, von Cassel über Göttingen nach Hannover führen sollte, wo bis jetzt bloß eine Postverbindung besteht; dadurch würde allerdings das kleinstädtische Wesen Göttingens in etwas geändert, da letzteres bis jetzt vom größern Weltverkehre abgeschloßen ist, außer wenn man die Lederversendungen aus den zahlreichen und guten hiesigen Gerbereien dazu rechnen will. Im Ganzen lebt der hiesige Bürger einfach und bescheiden, mehr in seiner Familie als im öffentlichen Leben; […] Treten die Männer hier einfach auf, so scheinen dagegen die Weiber in der Civilisation weiter geschritten zu sein, wie man nach der Pracht urtheilen möchte, die sie vorzüglich an Sonntagen entfalten. So ausstaffiert mit goldenen Armspangen und weiß ich was noch mehr für Flitterzeug habe ich die vornehmsten Damen in Basel nie gesehen. Um so lächerlicher kommt dieß Einem vor, wo man einen der Art geschleckten Sommervogel etwa aus einer Hütte schlüpfen sieht, bei der man sich fürchtet vorbeizugehen, weil ihr jeden Augenblick der Einsturz droht, wie weiland des Peterhansen Scheune. Wie überall so giebt es auch hier Arme und zwar ein eigentliches Proletariat, das in einem besondern Stadttheile, Klein-Paris genannt, seinen Sitz aufgeschlagen hat und in den erbärmlichsten Lehmhütten, die meist auf den alten Wällen und Mauern kleben, haust und seine klägliche Wirthschaft führt. Daß Sittenlosigkeit und Versunkenheit hier wenigstens theilweise eingerissen sind und nur mehr als durch die Kraft des Gesetzes, durch die Macht der Gewohnheit und eines kräftigen sittlichen Widerstandes von der ehrenwerthen Bürgerschaft her am vollen Ausbruche gehemmt ist, bedarf wohl keiner weitern Erklärung.

 

An die Eltern am 21. Dezember 1851

Was die Verhältnisse in Frankreich betrifft, so sieht es dort allerdings erschrecklich kraus und trübe aus, es hat wohl auch in Eurer Nähe gespukt (im Elsaß). Wenn auch die Gährungen meist unterdrückt sind, so wird doch, und zwar aus guten Gründen, dem gewaltthätigen Präsidenten von den meisten Seiten nichts Gutes prophezeit; denn Gewalt, die sich durch überraschende Gewalt gehoben, währt niemals lange und thut niemals gut. Merkwürdig ist, wie hier Alles so ruhig und gleichgültig sich verhält, während doch das Revolutionsfieber anno 48 auch hier sich gezeigt hatte. Man hört nur hie und da Einen seine politischen Meinungen darüber kund geben. In Euern Wunsch und Eure Hoffnung, daß der Krieg nicht in unsere Grenzen schielen möge, stimme ich zuversichtlich ein. Daß der alte König von Hannover, der erst letzten Herbst noch hier einen Besuch gemacht hat, gestorben ist, habt ihr wohl vernommen aus Zeitungen. Das Land ist in Trauer, die Kirchen sind mit schwarzen Tüchern verhängt, alle Mittage wird mit allen Glocken geläutet, keine öffentlichen Festlichkeiten dürfen statt finden. Wie äußerlich aber dieß Alles ist, könnt Ihr aus dem merkwürdigen Zuge ersehen, daß, als die Kunde von seiner schweren Krankheit kam und man seinen Tod erwartete, sich vorher Alles noch recht lustig machte, Bälle veranstaltete und darauf los tanzte, als wäre aller Orten Hochzeit, um sich einigermaßen für die lange Zeit, wo man dieß nicht thun dürfte, zu entschädigen. Jetzt ist Alles mäuschenstill.

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