Das wissenschaftliche Leben in Göttingen

Auszug aus einem Brief an den Grossvater Jonas Matt am 3. Juli 1851

Was nun das wissenschaftliche Leben, um das es sich bei mir ja am meisten oder allein handelt, betrifft, so kann ich nur meine Zufriedenheit und Freude bezeugen, diesen Musensitz gewählt zu haben zur Fortsetzung meiner Studien. Abgesehen von der vielseitigen lebendigen Anregung, die so wohlthätig auf die Förderung der Studien wirkt und die ich in Basel viel weniger fühlte als hier, habe ich mich auch in meinen Erwartungen von den Männern, die ich hier höre, keineswegs getäuscht, sondern sehe dieselben vielmehr von der Wirklichkeit übertroffen. Was für ein großer Vortheil in letzterm Punkte für unser Studium liegt, kann nur der ermessen, der schon in den Hörsälen sich umgeschaut hat und weiß wie schlimm es darin so manchem Studenten ergeht, wie sehr ihnen durch Enttäuschung ihrer Hoffnungen oft alle Lust und Liebe zum Studium selbst vergeht. Die Befürchtung, die ich mit hieher brachte, daß bei einer so zahlreichen Studentenschaft man vielfach zerstreut werden müsse, sehe ich nun ganz durch die Erfahrung widerlegt, indem das Fraternisieren hier nicht Sitte ist und Jeder am Andern vorbeigeht als ginge er ihn weiter nichts an, außer wenn etwa solche, die sich bei wissenschaftlichen Uebungen kennen lernen, einander grüßen, Landsleute einander suchen und finden und, wie es recht und billig ist, auf freundschaftlicherem Fuße stehen mit einander als mit andern, und die Glieder der einzelnen Corporationen fest zusammenhalten. Letztere allein repräsentieren das eigentliche ächt romantische Studentenleben, das freilich dem Kopfe wenig, dem Beutel gar keinen Vortheil bringt, wohl aber zuweilen der Einwohnerschaft ein hübsches Vergnügen macht, wenn zu Pferd und Wagen, mit Flaus, Kanonenstiefeln und Degen, mit flatternden Fahnen und schallender Musik die stolzen Musensöhne ausziehen zu einer Lustfahrt oder zu einem festlichen Commers. Uns Nachtstühlen freilich die wir zu solchen Feierlichkeiten weder große Lust noch Zeit noch Geld haben, ist solche Repräsentation nicht vergönnt, um so mehr aber ist die Abgeschlossenheit uns nützlich zur Arbeit. Was die Männer der Wissenschaft betrifft, die ich besonders schätze, so ist der alte ehrwürdige Lücke, wenn ich auch nicht sagen darf mein Abgott, so doch von Allen der Mann den ich mit Liebe und Hochachtung nenne und ehre. In seinem Charakter ist er ein kernhafter Deutscher, sittlich ernst und lebensfroh, tief gemüthlich religiös und verständig praktisch, männlich kräftig und doch liebevoll und liebenswürdig. In seiner Richtung so in der Wissenschaft wie im Leben ist er gleich entfernt von aller wissenschaftlichen religiösen und sozialen Schwindelei, wie von der gemeinen Flachheit auf diesen Gebieten, mit scharfem und klarem Verstande verbindet sich bei ihm die belebende Wärme des Gefühls. Er ist ein scharfer Dialektiker, aber kein solcher Dialektiker der mit dem Messer der Kritik alle Fibern und Nerven eines lebenden Organismus zerschneidet und darum am Ende mit seinem todten Gerippe nichts mehr anzufangen weiß, sondern ein Dialektiker, der das Leben und den Organismus ungestört läßt, aber mit scharfem Blicke und mit unermüdlicher Liebe eines Forschers den feinsten Fäden und Verzweigungen desselben nachgeht; um mich klarer auszudrücken: er erforscht die Thatsachen der Religion und des religiösen Lebens, so weit der Mensch mit seinem Forschen dringen kann; aber er hebt mit diesen seinen Forschungen jene nicht auf, noch verkürzt er sie, sondern stellt sie erst in ein helles Licht; er läßt dem Menschlichen sein volles Recht, wo es an seinem Platze steht, aber er verkürzt dadurch nicht die Hoheit des Göttlichen und läßt jenes sich nicht über dieses erheben; beide durchdringen sich in ungestörter Harmonie. Er gehört also, wenn ich recht verständlich reden will, weder zu jenen nervenschwachen Buchstabenorthodoxen und süßlichen Pietisten, die ein Zeter- und Mordiogeschrei erheben, wo sie glauben den Unglauben mit Hörnern und Pferdefuß irgendwo hervorgucken zu sehen, noch viel weniger aber zu denen, die alle Religionen und ihre Thatsachen nur für Schein und Trug erklären oder doch aus ihren eigenen Ideen und Gedanken dieselbe construiren wollen und das positiv Gegebene in der h. Schrift und in der Entwicklungsgeschichte des Christenthums weder würdigen noch auch nur gehörig beachten. – Lücke ist nicht nur ein treuer Freund und ehemaliger College des großen Schleiermacher, sondern auch ein würdiger Vertreter von dessen theologischer und wissenschaftlicher Richtung, in ihm versöhnt sich ebenso wie in jenem Humanismus und Theologie. – Das Colleg, das ich bei ihm höre über die christl. Sittenlehre ist ausgezeichnet. Auch Prof. Ehrenfeuchter spricht mich sehr an wenn auch nicht in dem Maaß wie Lücke. Seine Collegia schlagen fast sämtlich in das Gebiet der praktischen Theologie ein, worin überhaupt sein eigentlicher Ruf besteht, und geben Einem sehr viel gute und nützliche Winke in Beziehung auf Amtsführung etc., was man von einem Professor um so lieber annimmt, wenn er wie Ehrenfeuchter schon im Amte gestanden hat und aus Erfahrung nicht blos aus der Theorie heraus reden kann. Seine Richtung ist eine gläubig fromme, doch wie es mir scheint, hie und da mit spekulativen Elementen versetzte.

 

Auszug aus einem Brief an die Eltern am 1. August 1851

Was unser hiesiges Leben betrifft, so sieht es, wie wir es treiben, allerdings ein wenig eintönig aus, es ist aber gerade dadurch geeignet, uns nie aus dem Kreise fortgesetzter Arbeit kommen zu lassen. Was letztere betrifft, so finde ich so viel zu thun, daß es mir manchmal grün und gelb wird vor den Augen, wenn ich daran denke, wie viel ich noch zu thun habe oder doch bestimmt mir vorgesetzt zu thun und wie sehr mir noch der wahre Ernst und Fleiß und die rechte Weihe bei aller Anstrengung fehlt. Ich kann nicht begreifen, was für ein Gewissen viele der fidelen Musensöhne haben, die nicht etwa nur zu Hause nichts selbstständig arbeiten sondern sogar die schönsten Collegien, die sie mit blanken Geldstücken haben bezahlen müssen, gewissenlos fast regelmäßig versäumen und dafür in den Kneipen und weiß der Himmel wo sonst noch herumrutschen. Solche Schlendrians findet man unter der hiesigen sonst gewiß ordentlichen und im Ganzen genommen, gehaltenen Studentenschaft auch hier. Gar nicht übel gefällt mir die hiesige Sitte bei den Studenten, daß sich die, welche einander genauer kennen gelernt haben, an einem freien Nachmittag zu einem Kaffe oder Thee einladen und in traulichen Gesprächen ihre wissenschaftlichen Ansichten, ihre Erfahrungen und Erlebnisse auf Reisen etc. etc. mittheilen, wo man neben schöner und erlaubter Erholung, die auch bei der Entbehrung allen Familienlebens Einem fast zum Bedürfniß wird, wenn man nicht versauern soll, noch Manches erfahren und lernen kann. – Mancher wird wohl dadurch auch abgehalten, den allen Menschen angeborenen Zug nach Geselligkeit dahin richten, wo er eher Schaden als Nutzen finden könnte.

Quelle: Jonas Breitenstein-Nachlass im Dichter- und Stadtmuseum Liestal.