Eindrücke über Göttingen und seine Bevölkerung

Blick auf die Stadt aus der Vogelschau nach Nordwesten. kolorierte Lithographie um 1850 von Friedrich Besemann.#Städtisches Museum Göttingen, Inv.Nr. 1929/200.

Auszug aus dem Brief an die Eltern vom 15. Juni 1851

Göttingen selbst nun liegt in einer kleinen Ebene, oder vielmehr einem Thalgrunde, der von der fast immer trüben Leine durchfloßen wird. Rings sind zwar niedrige aber ziemlich liebliche Berge, z. Th. bis oben bebaut und daher nicht so schön wie unsere mit Wald umkränzten Gipfel. Die Gegend ringsum ist zwar an einigen Orten etwas dürre, doch ziemlich fruchtbar.

Blick auf die Stadt vom Hainberg. kolorierte Lithographie um 1860, wohl von Heinrich Martin Grape.#Städtisches Museum Göttingen, Inv.Nr. 1929/199.

So schöne Wiesen und so duftendes hohes Gras wie bei uns findet man hier aber nicht. Es wird in der Umgegend, nebst Kartoffeln meist Roggen auch Korn, Hafer und Lewat [Raps] gebaut. Viele Felder liegen aber brach, was bei den Kuh-, Schaf-, Schweine- und Gänseheerden, die man hier überall trifft, auch nöthig ist. Es macht Einem aus unserer Gegend, wenn er hieher kommt, einen eigenen fast komischen Eindruck, wenn er eine grunzende Schweineheerde einherrennen oder die schnatternden Gänse auf dem Felde wackeln sieht. Um die Stadt und die umliegenden Dörfer sieht man viele Obstbäume, meist Zwetschgenbäume, desto weniger auf den Feldern. Die Dörfer dürft Ihr Euch aber nicht so schön vorstellen wie bei uns; sie bestehen fast ganz nur aus zerstreuten Hütten, Riegelwände, die mit Ruthen durchflochten, wohl auch mit Backsteinen ausgefüllt und mit Lehm beworfen sind. Manche sind auch gemörtelt und bemalt und nehmen sich dann recht hübsch aus. Die Bauersleute scheinen stark, frisch und gesund z. Th. auch wohlhabend, doch sieht man viele zerlumpte (weit mehr als bei uns). Nicht selten gehen die Weiber barfuß, weniger die Männer. Letztere haben z. Th. noch die alte Tracht, kurze Hosen und Überstrümpfe bis an die Knie, weitkrempichten Hut und entweder einen weißen Zwilchrock, der roth gefüttert ist oder ein blaues Hemd. – Die Weiber tragen meist sehr hohe schwarze Beginen mit vielen herabwallenden Bändern, etwas kürzere steifere Röcke als bei uns und einen sonderbaren leinenen Mantel, meist von blauer Farbe mit weißen Blumen (auch im warmen Sommer), den sie oft ganz eigenthümlich aufgeschürzt haben. Sie tragen keine Körbe (Zeinen) wie bei uns (ich habe von solchen hier glaub ich erst einen gesehen) sondern vierkantige Hutten, mit welchen auch die hiesigen Mägde auf den Markt gehen, die Gemüse einzukaufen; die Männer tragen keine, sondern nur die Weiber. Ebenso trifft man hier keine Züber, sondern Eimer, die man an einem Henkel, oft auch zwei an einem über die Schultern liegenden Joche trägt. Unter den Hausthieren nehmen die Schweine keinen unbedeutenden Rang ein, daher ist das Schweinefleisch hier eine gewöhnliche Speise. Die Kartoffeln sind meist klein. Unter Göttingen selbst habt Ihr Euch nicht etwa eine schöne Stadt zu denken, sondern vielmehr ein großes Dorf mit zusammenhängenden Häusern und gepflasterten Straßen. Sie zählt etwa halb so viel Einwohner als Basel, die theils von den Wissenschaften, theils von Ackerbau und Gewerben leben; unter letztern blüht besonders die Gerberei, und das Göttinger Leder ist weit berühmt. Der Verkehr ist unbedeutend, und es kommt Einem daher recht öde vor, wenn man von Städten wie Basel, Frankfurt und so fort kommt. Die Häuser selbst sind ebenfalls fast sämmtlich mit Riegel gebaut, daher auch bei den größten die Mauern selten einen Fuß dick sind. Die Fenster sind mit der äußern Mauerfläche gleich und gehen nach außen auf; ich glaubte zuerst, als ich die Bauart noch nicht kannte, es wären Vorfenster. Wegen der Unsolidität dieser Bauart hängen die älteren Häuser oft ganz schräg über und die Kreuzstöcke neigen sich nach allen Himmelsgegenden, die neuern sind aber alle schön übertüncht oft 2–3 Stock hoch (und so sind die meisten in den Hauptstraßen) und sehen gerade aus wie steinerne. Läden findet man nur im Erdgeschoß, man thut sie wegen der vorliegenden Fenster nur mit Schrauben zu. Der Theil der Stadt, wo besonders die Armen wohnen, besteht aus niedrigen ärmlichen und erbärmlichen Lehmhütten, die auf den alten zerfallenen Wällen kleben, durch welche der Wind pfeift und gegen die das Trinihaus in Zyfen noch ein Schloß zu nennen ist. Die Hauptstraßen aber sind lieblich und breit und die Häuser ganz hübsch.

Ärmliche Häuser vor dem Stadtwall von Göttingen.#Fotosammlung Hernfred Arndt, Göttingen.

Schöner ist jedoch die Umgegend. Die Wälle um die Stadt sind bis auf eine gewiße Höhe abgetragen, so daß man davon schön auf die Stadt und das Land sehen kann, ein schöner breiter ganz mit Lindenalleen beschatteter Weg führt darüber und so um die ganze Stadt; die Gräben zu beiden Seiten sind in die schönsten Gärten umgewandelt, mit Anlagen, Bäumen, Gartenhäuschen etc. allerliebst. Alles kann in diesen Anlagen wo sie öffentlich sind, spazieren, in deren einer befindet sich ein Teich mit einem stolzen Schwanenpaar und Bürgers Denkmal.

Bürgers Denkmal. Aquarell um 1820 von Friedrich Besemann.#Städtisches Museum Göttingen, ohne Inv. Nr.

Nicht weit vor der Stadt befindet sich auch die Sternwarte wo der berühmte Astronom Gauß die Sterne beguckt. Ich habe vorhin gesagt, die Stadt sei eigentlich ein Dorf. Denn fast jedes Haus hat einen Hof mit Stall etc. Alle Morgen spaziert die Göttinger Kuhheerde stolz zum Thor hinaus und kommt am Abend mit großem Conzert nach Hause. Komisch ist es, wie da die Kühe auch bei den schönsten Häusern in die Hausgänge, oft sogar steinerne Treppen hinaufspazieren, um durch dieselben in den Hof zu gelangen.

Das tägliche Viehtreiben durch die Göttinger Strassen, welches noch bis in die 1870er Jahre Brauch war.#Sammlung Hernfred Arndt, Göttingen.

Ebenso die Schweine, die mit vielem Grunzen Abends wie wild durch die Straßen rennen und hie und dort eine mit einem Schuß zur Thüre hinein; sie wissen alle ihre Heimath gar wohl, und wird ihnen nicht gleich geöffnet, so rennen sie mit großem Crawall am Hause hin und her. In unserm Hause befinden sich 2 Ziegen und 2 Schweine. – Viele Leute halten auch Pferde, haben Pflüge, Eggen etc. Neben vielen wenn nicht sehr reichen, doch recht wohlhabenden Leuten findet sich hier ein Proletariat wie vielleicht sonst nur in größern Städten, unter dem nicht geringe Sittenlosigkeit herrschen soll; Branntwein ist auch hier ein verderbliches Gift, umso mehr da der Wein schon für die Wohlhabendern noch mehr für die Armen zu theuer ist, und das Bier ihnen wohl nicht geistig genug sein mag. Dennoch bei aller Armuth muß Alles an den Leib gehängt sein, und arme Dirnen gehen in Schäwlen gekleidet umher, arme Bursche in tüchenen Röcken etc. Ueberhaupt, außer dem herrlichen Genuß um den edlen Professor Lücke, Ehrenfeuchter und andere, und das wissenschaftliche Leben hat Göttingen auch gar nichts uns geboten, das uns sehr anziehen könnte und oft harren wir mit Sehnsucht der schönen Zeit, da wir wieder ins Vaterland zurückkehren dürfen.

Die Leute hier in Deutschland in den Städten machen mit Kleidern und Complimenten viel mehr Aufwand als bei uns, wo es doch auch schon weit genug getrieben wird und wir einfachen Schweizer wissen gar nicht so fein zu sein als sie; ich denke, es ist am besten, wir bleiben bei unserer Einfachheit; denn mit jenem feinen Wesen wird nur viel Schein und Wind gemacht und steckt am Ende wenig dahinter. Hier in Göttingen siehts nun freilich so arg nicht aus wie in den größeren und belebteren Städten, es ist hier Alles noch einfacher und darum auch wahrer und gemüthlicher. Die Leute leben hier nicht so gut wie bei uns, und auch minder arme haben für z’ Neune und z’ Oben oft ein Stück Schwarzbrot und Schweineschmalz darauf; überhaupt hat man hier gar viel mit den Säuen zu thun, und überall werden sie auf die Weide getrieben. […] Das Land ringsum ist nicht gerade unfruchtbar aber doch ziemlich arm. Bei uns würde man sich bedanken in solchen Hütten zu wohnen, wie man sie hier fast sämmtlich in den Dörfern findet. Freilich, die Leute haben nur vom Ertrag ihres Landes zu leben und müssen dazu noch viele Abgaben zahlen. Gewerbt wird wenig, und darum ist auch kein großer Wohlstand. Doch sind die Leute, die hier auf den Markt kommen, recht sauber wenn auch einfach gekleidet. Die Weiber bei uns würden sich aber bedanken, wenn sie so dran müßten wie die hier.

 

An die Eltern am 1. August 1851

Die Sonnenfinsterniß am 28ten erregte hier große Sensation; sie war bedeutend stärker hier als bei Euch, wie uns der große Astronom Gauß sagte, den wir auf der hiesigen Sternwarte während der Finsterniß besuchen zu dürfen die Ehre hatten; der berühmte Mann war ungemein freundlich gegen uns. Wir beguckten die Sonne durch die Fernröhre Telescop, die er uns aufgestellt hatte. Die Göttinger Bürger und Bürgerinnen machten einen ganzen Feiertag aus dem Nachmittag, machten einander Besuch und spazierten schaarenweise im Festgewand. –

Blick vom Wall auf die Sternwarte, erbaut 1803–1816 unter westfälischer Herrschaft (König Jérôme Bonaparte). Ihr Direktor war von Beginn an Karl Friedrich Gauss. Aquarellierte Federzeichnung um 1835 von Friedrich Besemann.#Städtisches Museum Göttingen, Inv.Nr. 1976/55.

Carl Friedrich Gauss, Astronom, Direktor der Sternwarte Göttingen. Lithographie von E. Rithmüller 1850.#Städtisches Museum Göttingen, ohne Inv.Nr.

An den Bruder Karl vom 2. August 1851

Das Land hier in der Umgegend ist verschieden, an manchen Stellen unfruchtbar, an andern aber wieder sehr fruchtbar und üppig. Es wird sehr viel Roggen gepflanzt, der sehr schön wird; es giebt davon aber ziemlich rauhes und nicht sehr weißes Brod, was man auch hier in der Stadt erfahren kann, es ist aber eher noch wohlfeiler als bei uns. Die Bauersleute fahren viel mit Stieren, die aber nicht angespannt werden wie bei uns; jeder hat vor den Hörnern ein starkes Holz, an dem die Zugstricke befestigt sind. Sonst haben die Thiere nur noch einen einfachen Bauchriemen mit einer Aufenthalter. Sie ziehen, oder stoßen vielmehr auf diese Art ganz leicht, da williger als bei uns, weil ihre größte Kraft ja im Kopfe liegt. Die Kühe und Ochsen sind im Ganzen genommen nicht so schön wie bei uns; die Pferde aber, davon man auch viele hält, sind schöner als bei uns; die hannöversche und meklenburgische Pferderasse ist ja in ganz Deutschland berühmt. Sie gleichen einigermaßen der welschen Rasse, sehen aber nicht so plump aus als jene und man findet fast keine Schimmel darunter. Sie sind angeschirrt wie bei uns, nur meist mit Weißleder, was sich sehr schön ausnimmt. […] Kaffe und Zucker etc. ist hier etwas theurer als bei uns, der Tabak aber weit besser um das gleiche Geld, das macht, weil Hamburg ziemlich nahe ist und in Hannover selbst ordentliche Tabaksfabricken sich befinden. Es wird auch in Deutschland selbst viel Tabak gepflanzt, vielleicht gerade der, von dem Ihr raucht. Die Landleute hier kommen z. Th. noch altväterisch daher, tragen Büselikappen und Überstrümpfe bis an die Knie, daß man auch sieht, wie Einer Waden hat und seine Steckenbeine nicht unter den weiten Hosen verbergen muß; die Leute sind meist groß und stark.

Links

Stadtmuseum Göttingen: https://museum.goettingen.de/

Stadtarchiv Göttingen: www.stadtarchiv.goettingen.de