Einsichten und Berichte über das Studium in Göttingen

Ausschnitt eines Briefes an die Eltern in Ziefen vom 2. Juni 1851 aus Göttingen. Im Briefkopf die Aula der Georg-August-Universität.#Nachlass im Dichter- und Stadtmuseum Liestal.

«[…] Denn daß mir noch sehr viel zur befriedigenden Ausbildung für meinen Beruf fehlt, fühle ich tief und oft schmerzlich genug; die Lücken auszufüllen aber ist mein stetes und ernstliches Bestreben, wenn mir auch hie und da der Muth entsinken möchte und der Geist mir die Fülle und Kraft versagt, den zu behandelnden und aufzunehmenden Stoff des Wissens, der, wie Ihr wohl auch schon erfahren habt, uns zunächst in dürrer und langweiliger Abstraktheit entgegentritt, lebendig zu durchdringen. Zwar dürfte ich mir wohl, gewiß nicht ohne Grund, schmeicheln (doch dieß sei nur unter uns gesagt), jetzt schon so gut als Wirz, Seiler und Bielser, die eben alle schon im Pädagogium nicht sehr hervorragten, ein Examen bestehen zu können; aber mit diesem Bewußtsein ist mir noch lange nicht geholfen, und fern davon, jenen Umstand mir zu einem Ruhekissen zu machen, muß ich ihn vielmehr als einen Sporn zu neuer rüstiger Thätigkeit betrachten, weil ein gewisses Ehrgefühl, das mir angeboren ist und das mich in der Schule schon antrieb, keinen hinter mir zu lassen, wenn es immer meine Kräfte mir zuließen, mir es nicht erlaubte, mit einem knappen Hindurchkommen durch das Examen mich zufrieden zu geben. Dazu tritt noch der Umstand, daß wir nicht bloß unsere Ehre, sondern vorzüglich auch die des Staates zu retten haben; vor Allem und über Allem aber die Einsicht, daß das träger Bequemlichkeit dienende in den Sack stecken bloß dessen, was zum dürftigen Hausbedarf äußerst nothwendig ist, jedes Studierenden und besonders des Theologen unwürdig ist, und daß von ihm besonders ein ernstes und liebevolles Eingehen auf den Grund seiner Wissenschaft und ein treues Verfolgen aller ihrer Zweige so wie der mit ihr verwandten oder in das Leben sonst eingreifenden Wissenschaften gefordert werden muß. Wenn ich mir so die Aufgabe stellen muß, und ich stelle mir dieselbe so, so muß ich mir allerdings gestehen, noch weit hinter derselben zurück zu sein. Zwar möchte ich mich nicht gern der Faulheit und Gleichgültigkeit in meinem Studium zeihen lassen, wenn ich schon mit Schmerzen gestehen muß, daß ich hie und da hätte fleißiger sein und meine Aufgabe ernsthafter betrachten sollen, wohl aber habe ich aus Unwissenheit, weil ich mir fast überall selbst Berather und Helfer sein mußte, Manches verkehrt angegriffen, das auf andere Weise angefaßt und behandelt, mich weiter gefördert hätte, Manches auch als unwesentlich und unbedeutend weniger beachtet und übergangen, dessen Wichtigkeit und Bedeutung ich erst jetzt einsehe. – Manches Wissen habe ich mir freilich schon gesammelt, aber dasselbe liegt vielfach noch chaotisch und z. Th mir unbewußt da und harret noch gleichsam auf den Geist, der ob den Wassern schwebt, es lebendig zu beherrschen und zu einem harmonischen organischen Ganzen zu ordnen und zu gestalten. Doch ich will nicht verzagen und etwa Euch noch gar durch meine lamentatis zaghaft machen; ich glaube und hoffe, den an mich gestellten Anforderungen mit Gottes Hülfe durch Ausdauer und Fleiß nachkommen zu können, so karg und schmal mir auch meine Studienzeit zugemessen ist (denn Andere nehmen doch wenigstens 4 Jahre) und so unermeßlich weit das Gebiet sich auch ausdehnt, auf dem ich Schätze für den Geist und das Leben einsammeln soll.

Einschreibungsurkunde der Georg-August-Universität Göttingen vom 26. April 1851.#Nachlass im Dichter- und Stadtmuseum Liestal.

Mit der Ansicht des Herrn Pr. Banga stimme ich vollkommen überein und seit längerer Zeit habe ich mir besonders die Erklärung der h. Schrift zum angelegentlichsten Studium gewählt, denn nur auf ihrem Grund und Boden erhält sich unsere Wissenschaft und das Christenthum; in einer Zeit, wo die Spinngewebe willkürlicher menschlicher Gedankenspiele und verkehrter und wirrer Philosophereien aller Art mehr als je Herz und Sinne umstricken und gefangen nehmen. […] Dieser Winter wird für mich einer der ernsthaftesten meiner Studienzeit, weil ich darin nicht nur zu einem gewissen vorläufigen (denn ausstudieren kann man nie) Abschluß meiner Studien sondern auch meiner theologischen Ansichten und Ueberzeugungen gelangen soll, denn ohne solche ins Leben treten zu wollen wäre eine Thorheit; und ich fürchte daher nicht, Langeweile zu bekommen. […]»

Auszug aus dem Brief an Prof. Wilhelm Wackernagel aus Göttingen vom 24. November 1851

«[…] Warum ich nun aber Sie so lange nichts von mir habe erfahren lassen, hat seinen Grund einfach darin, daß ich Ihnen nicht eher schreiben wollte, als bis ich Ihnen auch etwas Rechtes zu melden wüßte und Ihnen wenigstens auch nur im Allgemeinen etwas von den hiesigen Vertretern der philologischen und philosophischen Wissenschaften sagen könnte. Leider muß ich Ihnen aber gestehen, daß ich auf diesem Gebiete bis jetzt hier noch zu wenig mich umgeschaut habe, um Ihnen ein wenn auch nur unvollkommenes Bild davon zu geben. [...] Meine Beschäftigung mit der deutschen Litteratur und den alten Klassikern beschränkt sich daher auf wenige Privatstudien, oder wenn Sie lieber wollen, Erholungen. Da ich gerade Ethik hörte, so las ich z. B. im Sommer Ciceros Werk De officiis, dessen feine Darlegung der Pflichten die umsichtige Klugheit des Staatsmannes und die große Menschenkenntniß und Lebenserfahrung des Weltweisen beurkundet; im eigentlichen Grund und Kern ist es aber so weit von der christlichen Ethik verschieden als das römische Heidenthum vom lebendigen Christenthum selbst. Hier ist die Pflicht die sittl. Bestimmung des Handelns aus dem innersten Lebenstrieb hervor, dort bleibt sie mehr oder weniger bloß äußerliche Verpflichtung. Um der deutschen Litteratur und ihrer Geschichte nicht ganz fremd zu bleiben, habe ich mich mit Vilmars «Geschichte der deutschen Nationallitteratur» beschäftigt, wobei mir Ihr treffliches Lesebuch gute Dienste leistete. Jedoch muß ich Ihnen gestehen, daß ich in jenem Werke, so schön und anziehend es auch geschrieben ist, doch nicht finden konnte, was ich suchte. Ich suchte darin Belehrung u. klare Einsicht in die Gebiete, wo ich noch ein Unerfahrener genannt werden kann, fand aber bloß kräftige Anregung zum weitern Studium und unmittelbaren Ausdruck der Empfindung von einem Kunstgenuß. So sehr der Verfasser, indem er uns mit in seine Gefühlswelt hineinzieht, uns zu fesseln weiß, uns erbaut und hie und da uns auch einen richtigen Standpunkt anweist, so wenig bietet er doch im Grunde Positives, auf welches die Untersuchung selbstständig bauend wir unser eigenes Urtheil über die Dinge uns bilden und ein festes bleibendes Bild der Entwicklungsgeschichte uns aneignen könnten. Denn so lange wir nur über eine Sache reden hören ohne recht eigentlich hineingeführt zu werden, so werden wir noch kein Urtheil aus der Sache heraus uns entnehmen können, wenn wir auch schon tausende darüber vernommen hätten. Daß Ihre Litteraturgeschichte herausgekommen, habe ich gehört, ich habe aber leider noch nicht Gelegenheit gehabt, sie zu sehen; immerhin freue ich mich sehr darauf, sie einmal mit Muße durchzunehmen, zumal da meine Hoffnung, über diesen Zweig der Wissenschaft bei Ihnen zu hören, nie in Erfüllung gegangen ist. In einem freundlichen Lesezirkel haben wir an Shakspears Lektüre (in der Schlegelschen Uebersetzung) wahrhaft unsern Geist erfrischt; leider hat sich aber die Sache zerschlagen, ehe wir das Vorhaben völlig ausgeführt. Da ich Ihnen nach dem oben Bemerkten nichts von Belange zu schreiben weiß, so muß ich mich auf Einzelnes einlassen, das für Sie von weniger Interesse sein mag, das aber doch gerne als ein kleiner schwacher Beweis meines steten Andenkens an Sie angesehen wäre. Daß ich Göttingen oder vielmehr seine Universität zum Behufe der Weiterbildung und Befestigung meines theologischen Studiums mir ausersehen habe, soll mich nie gereuen, und der reiche wissenschaftliche Genuß der mir hier geboten wurde sowie die der ganzen Anlage meines Geistes entsprechende und nach meiner Ueberzeugung vollkommen wahre Richtung der vorzüglichsten hiesigen Vertreter der Theologie, besonders eines Lücke, den ich tief verehre, haben mich bewogen, auch noch das Wintersemester allhier zuzubringen. Nur Weniges sei mir über jene Männer und ihre Richtung Ihnen zu sagen vergönnt. Allen weit voran steht mir Herr Abt Lücke, ein im treuen Dienste der Wissenschaft ergrauter und im steten Kampfe der Entwicklung erprobter Mann, körperlich gebeugt durch die Schläge des Lebens und die Schwächen des Alters, aber noch ein Jüngling an Frische des Geistes und tiefer Innigkeit des Gemüthes, lebenslustig und lebenskräftig, wo es sich handelt um die höchsten Güter der Menschheit und um die lebendige Anerkennung des Herrn, dem er dient; ein ächter Theologe, von altem Schrot und Korn! Seine Richtung in der Theologie ist, um sie kurz zu bezeichnen, eine entschiedene Mitte; nicht jenes unbestimmte Schwanken nach dieser und jener Seite und charakterlose juste milieu so vieler Tageshelden, die es mit Keinem verderben möchten, sondern eine Mitte, die auf fester Ueberzeugung gegründet jedem Extreme entschieden entgegen tritt und sowohl jene unhaltbare steife u. auf den bloßen Buchstaben sich steifende Orthodoxie und einseitige confessionelle Ausschließlichkeit, wie sie den ewig fortschreitenden Gang der Geschichte auf Altes, das den geschichtlichen Prozeß durchgemacht hat, zurückschraubt, bekämpft, als auch jene frivolle Freigeisterei, die im Zerwürfniß mit Gott, der Welt und sich selbst mit stolzer Aufgeblasenheit und Wissensdünkel alles Positive aufzulösen und die Religion ihres realen Inhaltes zu entleeren bemüht ist, ad absurdum führt und das menschliche Erkennen und Wissen in seine von Gott ihm gesetzten Schranken zurückweist. Lückes Vortrag ist einfach und ungeschminkt, aber gediegen. Was er in scharfer dialektischer Entwicklung der Gedanken erörtert hat, das belebt er sofort durch schlagende Beispiele, die er mit feinem Takte aus der Wirklichkeit und dem Flusse des Lebens herausgreift, um sie im Lichte der Wissenschaft dem richtigen Verständniß nahe zu bringen, und er führt somit seine Zuhörer an sicherer Hand nicht nur durch die Gebiete abstrakter Wissenschaft sondern auch auf den Kampfplatz der realen Wirklichkeit. – Auch Herr Prof. Ehrenfeuchter ist ein Mann von hoher wissenschaftlicher Bildung und gründlicher Kenntniß des Lebens in seinen vielfachen Beziehungen, daher er mit großem Erfolge auf dem Gebiete der praktischen Theologie arbeitet. Seine Vorlesungen über diese theologische Disziplin bilden ebensosehr ein schönes organisch zusammenhängendes wissenschaftliches Ganzes, als sie reich sind an trefflichen Winken für den künftigen praktischen Geistlichen. – Um es noch nachzuholen, bemerke ich hier, daß ich bei Herrn Lücke Ethik, Dogmatik u. Exegese, in welch letzterer er die Meisterschaft errungen, hörte u. noch höre. – Doch über alle Dozenten, die ich mehr oder weniger kenne, hier mein Urtheil abzugeben, würde mich hier zu weit führen; es genüge daher, an diesen beiden. […] Die Erinnerung an seine großen Gelehrten ist in Göttingen lebendiger als die an seine Dichter Bürger und Heine, von denen der Name des erstern fast ganz verschollen ist und an den nur ein unbedeutendes Denkmal vor dem Gronderthore erinnert; ein Loos, das vielleicht Vieles aus seinem Leben und die in seiner verkehrten Richtung entstandenen Gedichte nicht aber die herrlichen kraftvollen Gesänge aus seiner guten Zeit verdienen. Die Stelle, wo der Hainbund geschlossen wurde, wird noch gezeigt; das trockene dürre Erdreich mit seinen magern Bäumen deutet symbolisch auf unsere trockene Zeit. […]»

Auszug aus dem Brief an die Eltern vom 21. Dezember 1851

«[…]Wir haben, wie dieß wohl überall der Fall ist, während der Festzeit von Weihnacht bis zu Neujahr Ferien, welche Zeit, ausgenommen die eigentliche Festzeit, ich gerne zum zusammenhängenden Studieren benütze; schon habe ich gestern einen Schock Bücher von der Bibliothek geholt und meinen Bücherschaft mit Folianten besetzt. Zum selbstständigen Studieren und Forschen hat man wohl an wenigen Orten bessere Gelegenheit als hier, da die 500’000 Bände zählende Bibliothek jedem Studio offen steht. Es ist schade, daß man um mich bildlich auszudrücken, während der Studienzeit noch so viel mit dem wissenschaftlichen Buchstabieren zu thun hat und solche Gelegenheiten nicht besser benützen kann. […]»

Briefzitate aus dem Nachlass im Dichter- und Stadtmuseum Liestal

Der Bibliothekssaal, Stahlstich 1850.#Städtisches Museum, Inv. Nr. 1954/227