Karl Rudolf Stehlin

Stehlin-Merian, Karl Rudolf, (1831–1881), von Basel. Studium der Jurisprudenz in Basel und Göttingen. Advokat und Notar, Direktor des Bankvereins, Historiker, Gross- und Ständerat. Stehlin und Breitenstein besuchten gemeinsam das Pädagogium in Basel. Aus der Korrespondenz mit Stehlin ist ein einziger Brief Breitensteins erhalten.

an Karl Stehlin std. jur. in GöttingenZyfenia angusta den 24 März 1852.

Lieber Freund!

Verzeihe, daß nicht eher eine Epistel von mir an Dich abgegangen ist; denn es erfaßte mich in der letzten Zeit solch ein Ueberdrang der verschiedenartigsten Gefühle, daß ich für rathsam hielt, nur puffweise die ganze affaire explodieren zu lassen; einen Puff also erhältst auch Du. Von meiner Heimreise weiß ich nicht viel zu berichten, als etwa, daß sie glücklich in zwei Tagen mit relativ wenigem Gelde vollendet wurde. In Heidelberg hatte ich nicht mehr Zeit mich aufzuhalten, sonst hätte ich den lieben Fuchs sicherlich angemeldet und empfohlen; er wird übrigens den Weg auch so gefunden haben. In Basel fand ich überall freundlichen Empfang; ich hospitierte bei Grimm, der deutsche Geschichte liest, und traf da unter allerlei jungen und alten Bekannten den Mandrüll; das gute Thier oxte fürchterlich, will aber nächstens bei Euch vorbeikommen, sich in der reinen Göttingerluft zu erfrischen. Von Abziehenden, die zu Euch kommen wollen, weiß ich drei, den Lichtenhahn und die Schmidheinis (Neffe und Onkel, die übrigens sehr bösartig sein und wie Hund und Katze sich beißen sollen).

In Basel sieht Alles aus wie ehedem, und wird einem fast schmuechtig, wenn man an Alles das denkt, was man im Rücken hat liegen lassen und was man jetzt vor sich hat. Den dicken Vest habe ich natürlich auch hinter einem Glase Bier gesprochen und ihm durch meine Gegenwart und geistvollen Reminiszenzen allerlei gar sehnsüchtige Gefühle erweckt. Er befindet sich übrigens sehr gut, ist ein Mann von hohem Ton, artigen Sitten und zierlicher Gestalt; am Commers, der unlängst gehalten wurde, sollen seine Wasserstiefel sehr renommiert haben. Was meinen Freund Grieder betrifft, so habe ich denselben gesund und munter, in seinem freundlichen Hauswesen schon ganz wieder eingewohnt, angetroffen; er hat sich in Heidelberg einige Zeit aufgehalten, dort Schenkel und Ullmann besucht und, wie er sagt, sich sehr gut amüsiert. Wir haben zusammen Deinen Onkel besucht; er ist noch immer der alte freundliche kerngesunde Hagenbach; an den Porträts, die wir ihm brachten, hat er große Freude bezeugt.

Gegenwärtig niste ich auf unserm einsamen Dörfchen und zehre von der schönen Erinnerung alter vergangener Zeiten und des schönen Lebens in Euerm lieben Kreise. Mein Lebtag hätte ich nie geglaubt, daß beim Eintritt ins Philisterium und beim Scheiden aus dem schönen Studentenleben mich solche Wehmuth und ein solches Heimweh ergreifen könnte, wie es gegenwärtig der Fall ist, zumal da ich doch sonst kein flotter Bursche war. Als den Hauptgrund daran sehe ich an die plötzliche Abgeschlossenheit von der wissenschaftlichen Welt und das Hineingestelltsein in eine Lebensgemeinschaft mit so ganz anderm Ziel und Streben, als was ich verfolge; ich muß oft sehr an mich halten, um nicht in den Wahn zu fallen, ich sei überall von lauter crassen Materialisten umringt. Die Leute, mit denen ich eigentlich verkehren kann, sind mein Onkel und der Herr Pastor. Beide sind praktisch vielfach beschäftigt und haben weniger Zeit, außerdem mit mir zu verkehren, besonders der Erstere, bei dem ich außerdem zwar in der Unterhaltung vielen Nutzen und Genuß finden könnte, der aber wenn auch sehr indirekt, mir doch oft beinahe moralischen zu verursachen im Stande wäre, wenn er mich vergleichen läßt, wie er seine Studienzeit zugebracht und ich die meine.

Gestern Morgens hatte ich große Freude: ich gieng Geschäfte halber nach Liestal, vor dem Thore hielt die Post, weil die Pferde gewechselt wurden; eine bekannte Stimme tönte mir aus derselben entgegen und wie ich näher trat und schaute, war es der liebe Zingg, der glücklich bis hieher gekommen war, sich recht wohl befand, heiter und fröhlich aussah und an demselben Tage noch nach Dagmersellen zu reisen im Sinne hatte. Wir wünschten uns herzliches Lebewohl und Jeder zog seines Weges weiter. –

In unsere Examina werden wir wohl nächstens rücken müssen, ich habe leider gegenwärtig nur zu wenig Leder, um mich darauf hin gehörig zu satteln (quod omne bonum faustumque sit). Unser Bier ist recht gut und die neuen Batzen bringt man alle ab. Wie geht es bei Euch? Seid Ihr Alle gesund; habt Ihr auch so schönes Wetter wie wir, amüsiert Ihr Euch gut, kegelt Ihr brav? Lernt der Schwierigen tüchtig Latein? Weißt Du etwas Neues vom lieben alten Lücke? Grüße mein Philisterium und unser Luiseken! Vor Allem aber herzliche Grüße an Rietschi und seinen Mündling, an Hilty auch und Wölflin.

Und sei ebenfalls herzlich gegrüßt von Deinem Dich liebenden
J. Breitenstein

Georgia Augusta den 2 Mai 1852.

Mein lieber Breitenstein!

Es freute mich sehr, in Dir einmal eine Ausnahme von der Regel gefunden zu haben: Denn wie Mancher hat mir schon beim Einsteigen in die Post versprochen Nachricht zu geben von seiner Reise und seinem Schicksale und wie wenige sind ihrem Versprechen treu geblieben! Um so angenehmer wurden wir aber durch Deinen Brief überrascht, zumal wir dadurch auch die erste Nachricht von Zinggs glücklicher Heimkunft erhielten, eine Nachricht, die sich einige Tage später durch Zinggs eigenhändige Zeilen bestätigte. Seither wissen wir aber nichts mehr von ihm, da Rietschi so nachlässig war, seinen Brief noch nicht zu beantworten: Er ist aber zu hoffen und zu erwarten, daß ihm die heimatliche Luft wieder gut machen wird, was dieses nordische Clima verdorben hat. Letzteres hat dieser Tage wieder ein Opfer gefordert aus unsrer Mitte: Der ältere Schmidheini laboriert an einer Lungenentzündung und Prof. Treffurt der ihn behandelt, meint, es sei ziemlich viel Gefahr dabei; wir können jetzt wieder einen regelmäßig Wachdienst arrangieren: Heute ist es der 4te Tag und wenn ich nicht irre, so tritt die Crisis bei dieser Krankheit am 9ten Tage ein. Da er von jeher eine schwächliche Gesundheit hatte und namentl. auf der Brust angegriffen war, so sind wir ängstlich, ob er die Crisis überstehen wird. Du solltest indessen in Basel etwa von dieser Nachricht nur sorgfältigen Gebrauch machen, da man sonst weiß der Teufel was Alles daraus macht, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt. Das Verhältniß zwischen diesen beiden Schmidheini ist ein äußerst widerliches, zwar reden sie jetzt einige Worte miteinander, aber jeder spricht doch vom Andern ganz gleichgiltig, als kennten sie sich bloß vom Hörensagen. Wir hoffen aber Alle, daß der jüngere die Gelegenheit wahrnehmen werde, sich am Krankenbette mit s. Oheim auszusöhnen.

Auch Freund Hilti hat vor 14 Tagen wieder einen Rückfall gehabt, was sich übrigens leicht voraussetzen ließ, denn mit dem größten Leichtsinn fieng er wieder an Spritztouren zu machen und zu tanzen. Die Ärzte rathen ihm jetzt heimzugehen; er wird daher in 4–6 Wochen verreisen, um auf den Winter wieder zurückzukehren. Keiner von uns konnte bei diesem Rückfall viel Mitleid für ihn haben, da wir ihn aber öfter gewarnt hatten, worauf er aber natürlich nichts gab.

Von neuen Ankömmlingen kann ich Dir nichts schreiben, denn außer Lichtenhahn und den Schmiedheinis ist bloß Landolt wieder gekommen, sodaß wir also in derselben Zahl sind wie diesen Winter. Was meine Wenigkeit betrifft, so habe ich mich seit 4 Wochen in meinem Gartenhäuschen eingenistet und befinde mich daselbst vortrefflich. Philister, Bedienung, Wohnung vortrefflich, wie man es in Göttingen wohl nicht wieder findet. So kann ich mich in aller Muße auf mein Examen präparieren, das mich aber je näher ich ihm komme mit um so schrecklicherem Gesichte angrinset, daß mir nichts Gutes ahnen will. Da es aber im Grunde doch um ein Würfel- od. Kartenspiel ist, so hoffe ich nicht gerade abgefaßt und rams zu werden und „dinne“ zu bleiben. Mit gutem Willen und redlicher Benützung der Zeit läßt sich am Ende doch auch was ausrichten.

Gekegelt wurde in diesen Ferien rasend, oft ganze Nachmittage bis die Sonne untergieng, Looser hat darin mehr Fortschritte gemacht als im Lateinischen; von seinem Vetter Fuchs in Heidelberg wissen wir auch nichts, als daß er glücklich angelangt ist und daß es ihm sehr wohl gefällt.

Vor 14 Tagen hatte ich eine große Freude, denn wider alles Erwarten erhielt ich einen Besuch von J. J. Bernoulli, der von seiner Reise nach Holland und Belgien in sein Berlin zurückkehrte. Zugleicher Zeit kehrte auch Steiger bei uns an, er war mit Landolt dieses Frühjahr bis Krakau gekommen, sie wollen aber von dieser Heimat der polnischen Juden nicht viel rühmen. Bernoulli und Steiger besuchten viele Collegien, besonders gefiel ihnen der alte Lücke, Steiger namentl. war ganz entzückt und hätte Lust gehabt hier zu bleiben; auch schien ihnen unser Zusammenleben einzuleuchten. Wir hatten gerade auch einige schöne Tage und konnten ihnen somit die Umgegend ein wenig zeigen. –

Du klagst, daß Du Dich in Deiner jetzigen Stellung so sehr aus Deinen bisherigen Bahnen herausgeworfen fühlst: Das mag allerdings seine Richtigkeit haben, denn der Schritt vom Studentenleben ins Philisterium ist bedeutend und ist auch von jeher als solcher anerkannt worden. Bei den Meisten beruht indessen die Trauer über diesen Wechsel auf etwas rein Äußerlichem. Wer aber der Unterschied zwischen diesen beiden Sphären anderswo findet und tiefer fühlt, dem können wohl solche Gedanken kommen, wie Du mir sie mittheilst. Es kommt dann alles darauf an, den richtigen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus diese neuen Menschen mit ihren Wünschen und ihrem Ziele zu beurtheilen sind. Es bildet sich dann in unserm Innern eine Reaction gegen die Ideen, in denen man bisher gelebt, welche sehr wohlthätig, ja nothwendig ist, wenn man den richtigen Platz für sich und seine Ansichten im Treiben der Welt um uns finden will. – Nun wie geht und steht es mit Eurem Examen? Ich habe gehört, daß Fagottes auch auf der Landschaft machen will? Wird er wohl zugelassen? Es wird uns freuen, wenn Du bald wieder etwas von Dir hören läßt; ich habe Dir auch die Grüße von Schmidheini, Looser Rietschi, Wölfflin mitzutheilen. Also vergißt nicht Deinen

Stehlin

Meine jetzige Adresse ist: auf Aug. Rumanns Garten vor dem Weenderthor.